Ein Schatten an der Hauswand

Wenn ich aus dem Fenster unserer Hinterhauswohnung hinaussah, hatte ich, etwa in acht Meter Entfernung, die graue rissige Fassade des Vorderhauses vor mir, und ich mußte, obwohl wir im zweiten Stock wohnten, den Kopf weit zurücklegen, wenn ich ein Stück Himmel sehen wollte. Vor fast allen Fenstern mit den häßlichen Spanngardinen waren Leinen gezogen, auf denen immer viele Wäschestücke hingen. Flaschen, Kannen, leere Blumentöpfe und anderer Kram stand auf den Fensterbänken herum. Aus dem vergitterten Waschküchenfenster im Hof zogen Dampfschwaden die Hauswand hoch, so daß an dieser Stelle der Verputz faulte und abbröckelte. Auf gebogenen Rundeisen staken paarweise angeordnete Porzellanisolatoren, die in der Dämmerung wie Katzenaugen aussahen und über die sich elektrische Leitungen zum Hinterhaus spannten. So war es in allen Hinterhöfen, sie nahmen sich gegenüber den protzigen sandsteinverzierten Straßenfassaden trist aus. In der Mitte des Vorderhauses zogen sich wie eine schmale Leiste die hohen Treppenhausfenster bis unter das Dach, wo ein kleineres rundes Fenster den Abschluß bildete. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich einen Schatten an diesem runden Fenster. Von diesem Schatten möchte ich erzählen.

An einem kalten Morgen des Jahres 1924 gab es im Vorderhaus große Aufregung. Autos hielten vor der Toreinfahrt, Männer liefen die Treppen hoch, und neugierig steckten Frauen und Kinder die Köpfe aus den Wohnungstüren. Dann war ein Lärm auf dem Mansardenstock, man klopfte mit Fäusten gegen eine Tür, und eine Stimme rief: »Aufmachen! Polizei!« Einen Augenblick Stille, dann noch einmal: »Aufmachen! Polizei!« Türen wurden geschlagen, Männer schrien: »Haltet ihn!«, und ein Mann hastete die Treppe hinunter.

Es war ein seit langem von der Polizei gesuchter Betrüger. Einige Wochen vorher war er als Untermieter des Hauptbuchhalters Apfelstedt, der in seinem Leben noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt hatte, wie seine Frau hernach ausdrücklich festgestellt haben wollte, in dessen Mansarde eingezogen. Niemandem war der etwa vierzigjährige Mann aufgefallen, der seine Miete pünktlich im voraus bezahlte, sich immer korrekt kleidete, freundlich grüßte und einmal sogar Frau Walter die schwere Einkaufstasche in den zweiten Stock hinaufgetragen hatte. »Das sind oft die Schlimmsten, die sich so harmlos geben, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun«, sagte, als schon alles vorbei war, unsere Hinterhausnachbarin, die Gewerkschaftsfunktionärswitwe Schmidt.

Was der Mann genau getan, wie er und wen er betrogen hat, das weiß ich nicht, das wußte auch sonst keiner im Haus. Doch es war auch nicht so wichtig, Hauptsache, die Polizei hatte seinen Schlupfwinkel ausfindig gemacht und war gekommen, ihn zu verhaften. Aber er riß sich von dem Polizisten, der ihn bereits am Arm gepackt hatte, los und flüchtete. Die Kriminalbeamten waren darauf gefaßt und hatten auch unten an der Treppe Posten aufgestellt. Er sah, daß ihm der Fluchtweg abgeschnitten war, und rannte wieder die Treppe hoch. Vielleicht glaubte er, über das Dach entkommen zu können. Oben standen, mit entsicherten Pistolen, die zwei Kriminalbeamten und schrien ihm zu: »Stehenbleiben!« Da riß er das kleine runde Fenster am letzten Treppenabsatz auf und zwängte sich zwischen zwei Eisenstäben hinaus. Er tat einen gräßlichen Schrei und ließ sich fallen. Ein Polizist hatte noch versucht, ihn am Fuß festzuhalten, aber es war zu spät gewesen.

Wir im Hinterhaus bekamen natürlich den Lärm und das Schreien im Vorderhaus mit, hatten aber keine Ahnung, was geschah. Auch ich starrte zum Fenster hinaus und versuchte, mit Hilfe eines Fußschemels in den Hof zu schauen. Da plötzlich schrien die Leute auf und auch Mama, die hinter mir stand und mich festhielt, und ich sah einen länglichen Schatten, der sich unterhalb des Daches von der Wand des Vorderhauses löste und in den Hof hinabfiel. Der Mann lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet. Zweimal noch schlug er die Arme zusammen, so wie man sich im Winter wärmt, wenn man kalte Hände hat. Dann bewegte er sich nicht mehr.

Jetzt erst merkte Mama in ihrer Erstarrung, daß ich alles mitbekommen hatte, und zerrte mich vom Fenster weg. Für mich war das, was sich in den letzten Sekunden abgespielt hatte, durchaus nicht entsetzlich, nur sehr aufregend, und ich lief an das andere Fenster im vorderen Zimmer, um sehen zu können, was weiter geschah. Männer kamen in den Hof, immer mehr, einer brachte aus der Weinhandlung einen großen Bogen Packpapier und legte ihn über den Körper. Später kamen Leute mit einem Sarg - ich weiß noch, daß sie schwarze Schildmützen und graue Kittel anhatten -, legten ihn da hinein und trugen ihn weg. Dort aber, wo der Kopf des Toten gelegen hatte, zwischen dem Hintereingang und der Treppe zum Keller der Weinhandlung, war ein roter Fleck zurückgeblieben. Jemand schüttete einen Eimer Wasser darüber, aber der Fleck blieb, wenn auch etwas verblaßt, deutlich sichtbar.

Auch in den nächsten Tagen und Wochen sah man die Stelle, wo der Körper aufgeschlagen war, sie verschwand nur allmählich. Die Kinder von Nummer 12, die sonst im Hof herumspielten und über die Drückkarren turnten, stellten sich im Kreis um den Fleck und erzählten sich Gruselgeschichten, eine schrecklicher als die andere. Von Ermordeten mit Messern im Rücken und Messern im Bauch; von Selbstmördern, deren Geist durch die Keller spukte, weil Selbstmörder keine Ruhe finden und, wenn sie keine Lust zum Spuken haben, hinter den aufgeschichteten Briketts sitzen; von Toten, die nur scheintot waren und im Sarg wieder aufwachten. Da begann ich, mich vor der Stelle zu fürchten, erst recht, als irgendwer aufbrachte, man dürfe nicht auf sie treten, sonst sterbe man in diesem oder im nächsten Jahr. Dieses Tabu beachteten wir sehr lange, Monate später noch, als keine Spur vom Blut mehr zu sehen war. Um nicht versehentlich draufzutreten, schoben wir einen Handkarren über die Stelle.

Doch die schlimmste Gruselgeschichte erfand Kurt Katscher, der Druckereibesitzerssohn aus dem Vorderhaus. Wir sollten uns einmal vorstellen, sagte er, daß der Mann, der sich zwischen den Gitterstäben hindurchzwängte, nicht fallen konnte, weil er mit dem Fuß in den Stäben hängengeblieben war. Niemand könne ihn zurückziehen, weil der Fuß verklemmt sei, und nach unten fallen könne er auch nicht. Da hänge er nun, mit dem Kopf und den Armen nach unten, zwischen Himmel und Erde und schreie gellend. Und der Schlossermeister Walther aus dem Nebenhaus werde geholt, und er bekomme von der Polizei den Auftrag, die Stäbe, in die der Fuß verklemmt sei, durchzusägen, damit der Selbstmörder fallen könne. Eigentlich war das eine alberne, unwahrscheinliche Geschichte, sie machte aber auf mich einen tiefen Eindruck. Häufig stand ich vom Spielen in der Wohnung auf und ging ans Fenster, um zu sehen, ob der Selbstmörder an den Eisenstäben hing. Ich sah ihn sogar vor mir mit dem Kopf nach unten hängen, wenn ich gar nicht hinschaute. Jahrelang sah ich ihn im Traum da oben am runden Fenster.

Später, in der Nazizeit, als wir in unserer Wohnung wie in einer Falle saßen und jeden Tag darauf warteten, von der Gestapo oder der SA abgeholt zu werden, schaute ich oft, ohne es zu wollen, in den Hof hinunter, ob nicht gerade in dem Augenblick wer käme, uns zu holen. Wenn ich dann den Kopf hob und die Hauswand hochblickte, sah ich auch am runden vergitterten Fenster einen mit dem Kopf nach unten hängen, der nicht zurück und auch nicht fallen kann. Aber das war nicht mehr der von der Polizei Gejagte, das war ich selbst. Ich nahm die Hände vor die Augen, um den Spuk zu verscheuchen; es war vergeblich, ich sah mich weiter an den Stäben hängen.

Sogar jetzt, während ich diese Erinnerung niederschreibe, sehe ich mich dort mit dem Kopf nach unten hängen.

 

Kaiserhof Strasse 12
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